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Wenn sie wütend ist, ist sie wütend

Die Konflikte der Tochter begannen schon in der ersten Klasse. Immer wieder kam es zu Streitereien mit anderen Schüler*innen. Bei einem Spiel, das nicht so lief, wie Vera (Name geändert) es sich vorgestellt hatte, wurde eine Mitschülerin versehentlich verletzt. Die Schule versetzte Vera daraufhin für mehrere Tage in eine andere Klasse, um weiteren Streit zu vermeiden. Auch zu Hause kam es immer wieder zu Konflikten: Vera fragte ihre Mutter: »Was soll ich heute anziehen?«, war aber mit nichts zufrieden: »Nein, was du mir vorschlägst, gefällt mir nicht«. Ein solcher Streit zog sich nicht selten hin und endete oft in Schreierei und Tränen. 

In der Schule hatte sich der Leiter einer Familienberatung vorgestellt und bei Problemen Hilfe angeboten. Die Mutter, Sabine W. (Name geändert) rief ihn an und bekam schnell einen Termin. Am Ende des Gesprächs riet der Berater Sabine W., mit einer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*in zu sprechen. Psychotherapie kannte die Mutter bisher nicht. Hieß das nicht, dass ihre Tochter »psychisch labil« war, »einen Knacks« hatte? War ein solcher Knacks »überhaupt heilbar«? Und heißt dies nicht, dass auch die Mutter einen Knacks hat, wenn die Tochter nicht normal ist? Die Skepsis von Sabine W. war groß. Selbst nach dem ersten Gespräch mit der Psychotherapeutin überlegte sie noch hin und her. Andere befreundete Mütter rieten ihr jedoch, solche Konflikte schon jetzt zu bearbeiten. Später, während der Pubertät, könnte sonst der Kontakt zur Tochter völlig abbrechen. 

Die Psychotherapeutin Bettina Meisel ließ sich von der Mutter beschreiben, wie es ihrer Tochter in der letzten Zeit ergangen war. Dabei wurde klar, dass Vera mit erheblichen Veränderungen in ihrem Leben klarkommen musste. Die Familie war erst vor kurzem in den Ort gezogen und die Tochter hatte ihren bisherigen Freundeskreis verloren. Sie fühlte sich fremd und es fiel ihr schwer, im neuen Wohnort Anschluss zu finden. Außerdem war die Aufmerksamkeit der Mutter durch ein neues Geschwisterchen beansprucht. Vera fühlte sich einsam und verlassen, so als gäbe es keinen Platz mehr für sie auf der Welt. 

Vera, damals neun Jahre alt, saß im ersten Gespräch wie versteinert da, wenn die Mutter über sie sprach.

»Ich weiß nicht, warum ich hier bin«, sagte sie. »Um über das zu sprechen, was dich ärgert, bedrückt oder freut. Du kannst aber auch zeichnen, was dich beschäftigt, oder es mir spielend zeigen«, antwortete die Psychotherapeutin. »Du kannst mit mir alles besprechen, ohne dass irgendjemand anderes davon erfährt, auch deine Mutter nicht.«

Deshalb fanden die Termine mit Vera fortan auch ohne ihre Mutter statt. 

Vera zeichnete zunächst verschiedene kantige Kinder, mit maskenhaft lachenden Gesichtern und zum Teil ohne Hände, mit denen sie sich selbst und ihre Geschwister darstellte. Dabei erzählte sie, was sie aktuell beschäftigte: ein heftiger Streit zwischen Geschwistern, aus dem sich ein Streit der ganzen Familie entwickelt hatte. »Vera hatte die Sorge, dass ihre Mama die anderen Kinder lieber hat als sie, berichtete die Psychotherapeutin. Vera betonte, dass alle drei Kinder in einem Haus leben und zusammengehören. Gleichzeitig deutete sie an, dass das Mädchen auf der Zeichnung eifersüchtig sei und dass dies ein starkes Gefühl sei: »Wenn sie wütend ist, ist sie wütend.«

Begleitend führte die Psychotherapeutin Gespräche mit den Eltern, oft auch nur mit der Mutter allein. Diese merkte, wie sie sich im Konflikt mit der Schule unbewusst auf die Seite der Lehrer*innen und der anderen Eltern gestellt hatte. »Meine Tochter wird zu keinem Kindergeburtstag mehr eingeladen«, hatte sie befürchtet. Durch die Gespräche mit der Psychotherapeutin verstand sie die Gefühle ihrer Tochter besser und konnte, »mehr auf der Seite ihres Kindes stehen«. Für sie war dies »ein harter Blick in den Spiegel«. Mit der Zeit merkte sie, wie auch sie sich durch ihre Tochter abgelehnt fühlte. Auch fehlte eine größere Nähe zu ihrer Tochter. Anderseits entdeckte sie auch, wie ähnlich sie und ihre Tochter sich waren. Beide seien sie »dickköpfig« und »perfektionistisch«. Die Mutter beschäftigte auch immer wieder die Frage:

»Habe ich versagt, wenn mein Kind Hilfe braucht?« Die Psychotherapeutin bestärkte die Mutter in der Sicht, »alles getan zu haben, was nach besten Kräften möglich war«. Eine »perfekte Mutter« gebe es nicht. Entscheidend sei: »Was ist jetzt gut für die weitere Entwicklung der Tochter?« 

Auch die Mutter malte ein Bild ihrer Tochter. Darauf hatte Vera Stacheln. Die Frage, die das Bild stellte, lautete: »Wie umarme ich einen Kaktus?«. Gleichzeitig plagten sie aufgrund dieser widersprüchlichen Eindrücke Schuldgefühle. »Warum bekomme ich keinen Kontakt zu meiner Tochter?« und »sollte man als Mutter seine Kinder nicht nur lieben?«, dachte sie. Mit der Zeit lernte sie, die borstig-rebellischen Eigenschaften ihrer Tochter mehr zu schätzen. Vera war nicht so »mega-angepasst« wie sie, sondern drückte einfach aus, »was fehlt«. Sabine W. lernte auch, »dass 15 Minuten hundertprozentige Aufmerksamkeit pro Tag für meine Tochter gar nicht so wenig sind«. Ganz im Gegenteil: sich nicht nur nebenher um die Tochter zu kümmern, »sondern einmal am Tag ganz für sie da zu sein, war gar nicht so einfach«. Letztlich schafften es Mutter und Tochter sich näher zu kommen, weniger zu streiten, mehr miteinander zu lachen und sich zu entschuldigen, wenn sie einander verletzt hatten.

Zwei Jahre später machte der Wechsel ins Gymnasium für Vera in der Schule einen Neuanfang möglich. Schon vorher hatte sie im Chor außerhalb der Schule eine neue enge Freundin gefunden. Im Kunstunterricht und mit ihren neuen Kontakten »blühte Vera auf«, berichtet die Mutter. Auch für sie sei die Psychotherapie der Tochter ein Stück »Seelenbildung« gewesen. Die Tochter sei ihr erstes Kind gewesen, ein Mädchen: »Alles, was ich mir je gewünscht habe, war sie.« Dann war sie jedoch mehr eine freche Pipi Langstrumpf geworden, als ihr zunächst lieb war. Vera aber bestand darauf: »Ich will sein, wie ich will. Lieb mich trotzdem.« Von ihrer Tochter habe sie auch gelernt, nicht immer nur zu überlegen, was andere über die Familie denken: »Die anderen – die sollen denken, was sie wollen«, sagt sie sich heute. Froh ist sie auch darüber, sich dem Konflikt mit ihrer Tochter rechtzeitig gestellt zu haben, bevor er viel schwerer zu lösen gewesen wäre.

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